Wenigstens habe ich eine Geschichte

Ich finde es super, dass sie alle hier sind. Ich spiele sehr gerne Theater, aber im Moment habe ich keine Zeit, weil ich eine neue Ausbildung angefangen habe. Darum möchte ich diese Gelegenheit nutzen und Ihnen etwas erzählen.

Ich habe mal einen Film gesehen, in dem ein Polizist, weil er die Korruption in seinem Land bekämpfte, unschuldig im Gefängnis sass. Er hatte deshalb alles verloren. Als er wieder frei war und neue Arbeit suchte, wurde ihm vorgeworfen, er habe keine guten Qualifikationen vorzuweisen. Darauf antwortete er: Wenigstens habe ich eine Geschichte.

Dieser eine Satz – Wenigstens habe ich eine Geschichte – habe ich nie wieder vergessen.

Ich werde ihnen jetzt eine Geschichte erzählen und möchte, dass Sie sich am Ende wieder an diesen Satz erinnern.

Es war einmal ein achtjähriger Junge, der lebte mit seinen Eltern und jüngeren Geschwister glücklich in einer kleinen Stadt, deren Name niemandem geläufig ist. Auf die Frage was er mal werden wolle, wenn er gross sei, antwortete er manchmal, ich möchte Arzt werden, manchmal Lehrer, manchmal Kaufmann.

Der Junge liebte es in die Schule zu gehen und war ein erfolgreicher Schüler. Eines Tages als er im Unterricht sass, war ein lautes Geräusch am Himmel zu hören. Die anderen Schüler versteckten sich aus Angst vor dem unheimlichen Lärm unter den Tischen. Der Junge aber fragte den Lehrer: Woher kommt dieses Geräusch? Der Lehrer erklärte ihm, dass dies Flugzeuge sind die durch den Himmel fliegen. Der Junge wunderte sich wer damit flog. Der Lehrer sagte, dass sie von Piloten geflogen werden. Menschen, die in den Himmel fliegen! Dies machte den Jungen sehr glücklich und er entschied sofort, dass er Pilot werden wollte, wenn er gross war. Fortan antwortete er immer auf die Frage der Erwachsenen: Ich will Pilot werden!

Bereits mit 13 Jahren bestand der Junge als Zweitbester von Hunderten von Schülern die Aufnahmeprüfung an eine Hochschule, an welcher er während 9 Jahren zum Piloten ausgebildet werden würde. Die Pilotenschule war allerdings weit weg von der Stadt in welcher er mit seiner Familie lebte.

Seine Mutter weinte als er sich verabschiedete, aber sie war freudig aufgeregt, weil sie wusste, dass ihr Sohn seinen Traum verwirklichen konnte. Es vergingen 7 glückliche Jahre.  Der Junge war nun zu einem jungen Mann geworden und verbrachte die Sommerferien bei seiner Familie. Die Familie machte sich Sorgen, weil sich die Wirtschaft im Land verschlechterte und die Hälfte der Menschen mit den Herrschern des Landes unzufrieden waren.

Die korrupten Machthaber wollten nicht zurücktreten, sondern beschlossen, alle Menschen die gegen sie waren, unter dem Vorwurf einen Putschversuch gemacht zu haben, ins Gefängnis zu werfen. Der Diktator beschloss auch Schulen zu schliessen, damit sich sein Volk nicht weiterbilden konnte, weil er erfolgreiche und intelligente Menschen nicht mochte. Auch die Pilotenschule wurde geschlossen. Der junge Mann zog gegen den Diktator vor Gericht, damit die Schule wieder geöffnet werden sollte. Aber der Diktator wollte geliebt und nicht angeklagt werden. Darum wurde er sehr wütend und liess den jungen Mann einsperren. Der junge Mann war gerade mal 21 Jahre alt als er hinter Gittern sass.

Nach einiger Zeit liess man ihn wieder gehen. Aber egal wie sehr er sich bemühte wieder Fuss in der Gesellschaft zu fassen, es gelang ihm nicht. Er galt als Verräter, keine Universität wollte ihn mehr aufnehmen, er wurde von allen gemobbt und schliesslich wandten sich alle von ihm ab, ausser seinen Eltern.

Da er als vermeintlicher Verräter in seinem Land keine Zukunft mehr hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als es zu verlassen. Seine Mutter weinte sehr, aber sie konnte dem jungen Mann nicht sagen, dass er nicht gehen sollte, weil sie nicht wollte, dass das Leben ihres Sohnes hoffnungs- und aussichtslos blieb und er vielleicht wieder ins Gefängnis musste. So verliess er sein Land eines Nachts still und heimlich. Er liess seine Familie zurück, er liess die Flugzeuge am Himmel zurück und seine Träume hinter sich.

Er lebt jetzt in einem anderen Land, in einem Land, in dem es Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit gibt. Er hat jetzt neue Träume. Er vermisst zwar seine Familie, aber er ist jeden Tag dankbar für die Gemeinschaft in der er jetzt lebt. Der junge Mann ist nun 27 Jahre alt. Er steht hier vor Ihnen und kann sagen: Wenigstens habe ich eine Geschichte.

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